Liliana Heer

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©2003
Liliana Heer

Die Sonne danach
aus dem argentinischen Spanisch von Laura Haber

 

ES GIBT TAGE, heißt es im Lied. Mit Nebelschleiern, trüb die Landschaft, über die der Wind scharrt, so heißt es nicht.

Die Vorlieben setzen sich unbemerkt durch. Wir verlassen das Schiff im Morgengrauen. Wir wollen in die große Stadt gehen, durch die Altstadt laufen, die leuchtenden Straßenlaternen betrachten. Feiern.

Einer meiner Väter hat mir erzählt:
Ich bin in Belgrad geboren. Sieh zu, dass du die Familie besuchst, wenn du dort bist, das Gebäude steht noch, aber man muss die Treppen hochsteigen bis in den fünften Stock. Sag nur meinen Namen und du wirst durch die Luft fliegen, ich kenne keine bessere Art, um zur türkischen Festung zu gelangen, Kalemegdan erwartet dich. Versuch dir zu merken, was ich sage. Von meinem Fenster aus siehst du die Festung, als wäre sie eine Filmkulisse. Als ich mich in deine Mutter verliebt habe, hat mich die Vereinigung von Donau und Save dazu verleitet, sie zu vergewaltigen.

Wenn zwei Flüsse ihre Wasser vermischen können – wer sollte uns daran hindern, unser Blut zu vermischen?

Er lügt, sagte sie.

Es stimmt, niemand wird dich hinauswerfen. Noch bevor du dich hinsetzt, wird auf dem Tisch ein Teller mit Lammsuppe stehen, und wenn es kalt ist, stecken deine Füße in Hüttenschuhen. Selbst wenn deine Füße größer sind als die von Großmutter, wird sie annehmen wollen, du seist gerade erst zur Welt gekommen, du wirst ihr erzählen müssen, was ihr ältester Sohn alles getrieben hat.

Er lügt.

Es stimmt, ich bin mütterlicherseits ein Waisenkind. Ich wurde von einer Riesin großgezogen oder mir schien es so als Siebenmonatskind. Ich musste Fluchtwege finden. Ich war ein Mauerkletterer, die Schultern meines hünenhaften Vaters trugen seine zierliche Zecke. Er wird immer noch froh sein, mich verloren zu haben. Der Gegensatz war zu groß. In den ersten Monaten schrieb ich ihm Briefe, bestimmt hat er sie in der Vitrine im Arbeitszimmer aufbewahrt.

Er vertrieb sich die Zeit, so wie sich Männer mit Basteleien die Zeit vertreiben, wenn sie sich langweilen.

Er lügt.

Es stimmt, dein Großvater war ein Regierungsbeamter, hatte keine freie Minute, verreiste jeden Monat, war der angesehenste Botschafter Jugoslawiens, immer bekam er alles, was alle brauchten. Er erntete Anerkennung, fette Pfründe, Auszeichnungen, Reden. So viele Medaillen, Wappen, Worte gelangten in den fünften Stock und flogen durch die Fenster, dass die Leute an ihm klebten, um Autogramme zu bekommen, gierig darauf, mit seinem Prunk auf Du und Du zu sein.

Er lügt.

Es stimmt, ich gebe es zu ohne jeden Anflug von Scham. Wir waren würdige Arme unter einem wunderbaren Regime, gewohnt im Überreichtum an Humor und Dichtung zu schwimmen. Ich bin der Sohn eines Hai-Weibchens, mein Appetit ist ein Kamerad der Stürme.

Er lügt.

Hai sage ich, aber er wäre auch austauschbar gegen einen anderen Fisch, vage erotisch und weniger gefräßig. Ich könnte auch meinen Erfindungen mehr Glanz verleihen. Was auch immer sie behaupten, in den Lügen steckt viel Wahres. Diesmal wird deine Mutter mir recht geben, vergewaltigt habe ich sie nicht, aber gewollt hätte ich.

Ich lernte sie auf der anderen Seite des Ozeans kennen, tief im Süden des südlichsten der neuen Kontinente. Guerillera, verfolgt, geflüchtet, rätselhaft und brillant. Sie war so schlank, dass ich ihre Taille mit meinen Händen umfasste.

Jetzt lügt er besser.

Ich erinnere mich an den Kontrapunkt, geprobt in meiner naiven Vision, um mich zu amüsieren. Manchmal erzählte sie und ein anderer widersprach. Spontane Versionen wechselten sich ab mit langwierigen Befragungen.

Jeder Vater eine Geschichte. Alle glaubten an ihre dienliche Vaterschaft. Die Herkunft, die Städte, die Berufe, die Freunde waren abhängig vom Augenblick. Das Los wurde weitergereicht, löste sich auf, flüchtig, losgelöst von den Konsequenzen.

Wir waren immer woanders. Selbst das grausamste aller Ereignisse wurde bewältigt von irgendeinem Mitglied der Kommune, die improvisiert war zum Erhalt einer libertären Zelle. Lernen war die Devise: die Begriffe, die Größenmaße, die Substanzen wurden Teil des Alltagsvokabulars. Zum Beispiel hundertfünfzehn Gramm Dynamit in einem beidseitig abgedichteten Rohr, die Fingerkappe mit der Zündschnur und die schwarze Fahne.

Meine Kühnheit folgte dem lachhaften Kurs der unbekannten Unkenntnis: Martellato-Gehämmere und Ausprobieren. Früh schon lernte ich die Urbedeutung des Wortes „Fuge“ kennen. Außerdem und ohne jedes Pathos erfuhr ich irgendwann, dass auch sie nicht meine Mutter war.

Ich war dressiert auf die Haltung: Mutter, wer bist du? Eine Kraft, die stets das Gute schafft und das Böse will.

 

PLÖTZLICH IST NICHTS MEHR WIE FRÜHER ZUERST SCHREITET DIE ZUKUNFT VORAN DANN ÄNDERT SICH DIE VERGANGENHEIT FÜLLT SICH MIT GEFAHREN WORAUF ICH NOCH WARTE

Wir verlassen das Wasser, die Silhouette des Schiffs wird kleiner. Eine Miniatur. Wie viel bleibt noch von der Reise? Ein Drittel?